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Dienstag, April 30th, 2013 | Sozialdemokratie
Die Sozialdemokratie hat sich längst von der Idee verabschiedet, gegen den herrschenden Mainstream eine eigene Interpretation der Welt anzubieten und für deren politische Implikationen einzutreten. Mit der Krise wird es höchste Zeit, einen solchen demokratischen Klassenkampf im 21. Jahrhundert wiederzubeleben.
Dieser Artikel erschien anlässlich des 1. Mai 2013 in der Wiener Wochenzeitung Falter.
Als ich am Anfang meines politischen Engagements erstmals mit linker Weltanschauung in Berührung kam, eröffnete sich mir ein Universum voller Verheißungen. In meiner damaligen Vorstellung würden die ausgebeuteten Massen, die Verdammten dieser Erde irgendwann die alte Welt mit den Mitteln des Klassenkampfes niederreißen. Ist erst der Kapitalismus besiegt und die Klassenfrage gelöst, würden sich Nationen, Geschlechter und Ethnien wie Geschwister in den Armen liegen. Wieso sich viele Menschen im Laufe ihres Lebens von dieser Vision wieder abwenden, hat viele Gründe. Vielleicht, weil die revolutionäre Linke ihre großen Versprechen nie einlösen konnte. Vielleicht, weil älter werden und beruflicher Aufstieg den Standpunkt verändern und 3.000 Euro netto pro Monat den Bedarf an Revolution vermindern. Womöglich erschließen auch die zunehmenden Erfahrungen mit der Unvereinbarkeit eines „richtigen Lebens im Falschen“ die unendlichen Graustufen der Welt.
Viele verfallen wegen dieser Einsichten in Apathie oder Zynismus. Andere wenden sich dem Machbaren innerhalb einer sozialen Marktwirtschaft zu und lassen ihre Ziele bescheidener werden. Die kleinen Schrauben, an denen man drehen kann, werden nicht mehr verachtet, sondern gegen die großen Räder, die man bewegen wollte, ausgetauscht. Der ursprüngliche Fokus auf die Ausbeutung der Besitzlosen im Kapitalismus, also auf die Klassenfrage, deren Klärung doch einst alle anderen Probleme lösen sollte, gerät in den Hintergrund und verblasst oftmals völlig. Diesen linken Lebenszyklus gibt es offenbar nicht nur bei Individuen, sondern auch bei sozialen Bewegungen. Der in der österreichischen Arbeiterbewegung bereits 1945 eingeleitete Abschied vom revolutionären Klassenkampf, wurde im Lauf der Zweiten Republik ins Extrem getrieben. Bis zur Wirtschaftskrise 2008 wurde das Thema „Klasse“ in der Sozialdemokratie unsichtbar. Die historische Kernkompetenz wurde einfach abgelegt wie ein unmodern gewordenes Kleidungsstück, für das man sich plötzlich in der Öffentlichkeit genierte. Diese Selbstverleugnung der Arbeiterbewegung führt zur Schlüsselfrage der Sozialdemokratie unserer Zeit: Wie kann sie einen von Erlösungsvorstellungen befreiten „Klassenstandpunkt“ wiedererlangen? Denn Klasse ist für die Sozialdemokratie vielleicht nicht alles, aber ohne Klasse ist alles nichts
Um transparent zu machen, von welchem Standpunkt aus dieser Text geschrieben wurde, werde ich mich kurz weltanschaulich verorten. Ich bin aus Überzeugung Anhänger von parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft. Die Kombination der beiden ermöglicht mehr Durchsetzung von Gleichheit, Freiheit und Solidarität als alle erprobten Alternativen. Ich verteidige in Diskussionen die Marktwirtschaft gegen die Planwirtschaft mit just jenen Argumenten, die der Liberale Friedrich August Hayek in seinem Werk „Der Weg zu Knechtschaft“ 1944 so brillant auf den Punkt brachte. Erhellend ist beispielsweise Hayeks Erkenntnis, dass eine zentrale Sammlung aller Informationen einer Volkswirtschaft unmöglich ist; oder die Einsicht, dass geplante Wirtschaften, in denen der Arbeitsplatz nicht frei gewählt werden kann, auch politisch diktatorischen Charakter annehmen werden. Allerdings verweigere ich Hayek die Gefolgschaft ab der raffinierten, aber falschen Schlussfolgerung, dass staatliche und gewerkschaftliche Eingriffe automatisch in die Knechtschaft planwirtschaftlicher Diktaturen führen müssen. 70 Jahre westeuropäischer Wohlfahrtsstaat sind der Gegenbeweis. Marktwirtschaft ist mit marktfremden Komponenten nicht nur kompatibel, sondern für ihr eigenes Funktionieren darauf angewiesen. Als Sozialdemokrat setze ich mich auf dem Fundament von Marktwirtschaft und Demokratie dafür ein, dass Politik und Wirtschaft in unserer Gesellschaft von einer Mischform marktlicher, staatlicher und zivilgesellschaftlicher Komponenten bestimmt werden.
Diese Mischform, nennen wir sie „öko-soziale Marktwirtschaft“, steht seit Jahrzehnten von wirtschaftsliberaler Seite unter Beschuss. Selbst die Krise konnte die Marktgläubigkeit nicht nachhaltig erschüttern, obwohl offenkundig wurde, dass die Finanzmärkte, das Paradebeispiel entfesselter Märkte, die Quelle des größten Marktversagens sind. Die Finanzkrise wurde sogar in eine Staatsschuldenkrise uminterpretiert, obgleich die EU-Staaten ihre Verschuldung im Jahrzehnt vor der Krise reduzieren konnten. „Sparen“ bedeutet in der Realität „Rückbau des Wohlfahrtsstaats“, und „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ heißt übersetzt „Lohnkürzungen“. Der Wohlfahrtsstaat und die Gewerkschaften stehen am Pranger obwohl jene Staaten, wo beide besonders stark sind, die Krise am besten bewältigten (etwa Österreich und die skandinavischen Staaten). Selbst in Zeiten der Globalisierung ist der Absatz der Unternehmen primär von den heimischen Einkommen abhängig – 87 Prozent der Produktion der EU werden in der EU nachgefragt. Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaaten stabilisieren Löhne, und damit den Absatz der Unternehmen über alle Wirtschaftsschwankungen hinweg. Trotzdem glaubt das Gros der Wirtschaftstreibenden, die Durchsetzung ihres unmittelbaren Vorteils, etwa ein niedriger Lohnabschluss, sei zu ihrem eigenen Wohl. Der vermeintlich eigene Vorteil ist jedoch nicht nur kein Vorteil aller, sondern er wird für die Unternehmer sogar zum Nachteil. Trotzdem bleiben, ungeachtet aller negativen Erfahrungen der letzten Jahre, „Standortwettbewerb“ und „Gürtel enger schnallen“ die dominanten Denkfiguren in der öffentlichen Diskussion. Das deutet auf eine Resistenz jener marktradikalen Doktrin hin, die alle demokratischen Elemente als marktfremde Störungen erachtet. Die Demokratie soll aus allen Bereichen zurückgedrängt werden, damit die natürliche Ordnung sich angeblich selbst regulierender Märkte gedeiht. Das ist, wie man es auch drehen und wenden will, ein Klassenkampf von oben.
Es waren die Marktliberalen, die die Finanzierungsbasis des Wohlfahrtsstaates aushöhlten. Wegen ihres Drängens wachsen die Löhne seit 25 Jahren nicht mehr mit der Produktivität mit. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen sank seit 1980 von über 70 Prozent auf heute nur knapp über 50 Prozent. Was der Staat bei den Löhnen an Steuern und Sozialversicherung verliert, könnte er sich bei den gegengleich wachsenden Vermögen mittels Besteuerung wieder zurückholen. Wieder waren es aber die Marktliberalen, die Steuererhöhungen auf der Kapitalseite nicht nur verhinderten, sondern die vermögensbezogene Besteuerung in Österreich zwischen 1990 und 2005 auf nur 1,3 Prozent am Steueraufkommen gedrittelt haben. Es sind auch die Marktliberalen, die den Wohlfahrtstaat für jene Verschuldung verantwortlich machen, die sie durch ihre eigene Steuersenkungspolitik samt Umverteilung von unten nach oben ausgelöst haben. Und es sind die Marktliberalen, die sich am lautesten über die wachsende Menge jener Menschen empören, die steuerlich nichts mehr beitragen; obwohl sie mit ihrer Politik der Lohnzurückhaltung genau den Niedriglohnsektor zu verantworten haben, in dem die (prekär) Beschäftigten keine Einkommensteuer zahlen.
Wie kann Österreich gleichzeitig zu den zehn reichsten Volkswirtschaften der Welt gehören, aber ein angeblich hoffnungsloser Fall der Reformunfähigkeit sein? Wie kann Österreich regelmäßig mehr Waren und Dienstleistungen ausführen als es einführt, wozu es ja es mehr produzieren als konsumieren muss, aber trotz dieses Unterverbrauchs angeblich über seine Verhältnisse leben? Wie kann es sein, dass wir durch den internationalen Freihandel reicher werden, aber gleichzeitig wegen des internationalen Wettbewerbs den Gürtel immer enger schnallen müssen? Wieso müssen Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit und letztlich Lebensqualität deutlich schlechter sein als in den 1970er-Jahren, obwohl wir als Volkswirtschaft mehr als doppelt so reich sind wie damals?
Alle diese Widersprüche lassen vermuten, dass die heute dominanten Erklärungsmuster in Politik, Medien und Wissenschaft grundlegend hinterfragt werden müssen. Es lässt vermuten, dass wir Akteurinnen und Akteure brauchen, die, um mit Marx zu sprechen, die Welt vom Kopf auf die Füße stellen. Es lässt vermuten, dass wir Überzeugungstäter brauchen, die mit größtmöglicher Authentizität zu den Menschen gehen, um diese für einen neuen Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft zu gewinnen. Es lässt vermuten, dass es dazu eine Partei braucht, deren Kernkompetenz im Zeichen der Erkenntnis steht, dass Ungleichheit das Resultat gesellschaftlicher Strukturen ist – und diese veränderbar sind. Diese Auseinandersetzung wurde von der Sozialdemokratie bis in die 1980er-Jahre auch aktiv geführt, eine Auseinandersetzung die nichts anderes war als ein demokratischer Klassenkampf.
Viele NGO’s und soziale Bewegungen sind im Prinzip Gruppen mit Spezialinteressen. Für die feministischen Bewegungen stellen geschlechterpolitische Anliegen den Hauptfokus ihrer Aktivitäten dar. Für die Bürgerrechtsbewegung in den USA ist und war vor allem der Kampf gegen Rassismus das entscheidende Mobilisierungsmoment. Die Arbeiterbewegung möchte aber Menschen aller Geschlechter und Ethnien, primär in ihrer Eigenschaft als Klassenangehörige, für politische Ziele organisieren. Das Spezialinteresse der Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen sind jeweils die faktische Gleichstellung. Das Spezialinteresse der Arbeiterbewegung ist, der Klassenkampf. Mit Klasse ist im 21. Jahrhundert keine männliche weiße Industriearbeiterschicht gemeint, sondern eine riesige inhomogene Gruppe in unserer Gesellschaft. Die Klasse, deren politische Vertretung die Sozialdemokratie beanspruchen will, kann unterschiedlich definiert werden – ganz traditionell als „Lohnabhängige“, eher zeitgenössisch als „99 Prozent“ oder einfach als Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen. Für eine progressive Allianz ist die Sozialdemokratie auf eine Kooperation mit allen anderen sozialen Bewegungen angewiesen. Doch damit es so weit kommen kann, muss sie sich ihrer eigenen Kernkompetenz erst wieder bewusst werden.
Die Idee des Klassenkampfs besagt erstens, dass ein Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit besteht. Zweitens muss die Arbeitsseite solidarisch (und international) kämpfen, um von der Kapitalseite nicht übervorteilt zu werden. Der Klassenkampf ist ein altes europäisches Konzept und das Gegenmodell zum American Dream alias „Vom Tellerwäscher zum Millionär.“ Letzterer besagt, dass jeder Mensch ganz nach oben kommen kann, wenn er nur alle notwendigen Anstrengungen unternimmt. Es ist der US-Traum vom sozialen Aufstieg in einer steilen Hierarchie mittels gewonnener Konkurrenzkämpfe, basierend auf dem Prinzip “the winner takes it all”. Dagegen steht das solidarische Konzept einer vielfältigen, aber politisch gemeinsam agierenden Klasse, die für die Gesamtheit ihrer Angehörigen ein größeres Stück vom Kuchen erkämpft. Im American Dream kann es jeder schaffen, im Klassenkampf können es alle schaffen. „Alle“ bedeutet, dass alle starten und alle im Ziel ankommen. „Jeder“ bedeutet, dass alle starten und nur wenige zum Ziel kommen. Der begriffliche Unterschied zwischen jeder und alle ist die Trennlinie zwischen Marktliberalismus und Sozialdemokratie.
Der „demokratische“ Klassenkampf bedeutet keinen Kampf gegen Menschen, sondern einen Kampf um die Deutung der Gesellschaft. Er möchte der Vorstellung, dass der Vorteil des einzelnen zum Vorteil aller gereicht, ein konsensstiftendes Gleichgewicht aus individuellen und kollektiven Interessen entgegensetzen. Der demokratische Klassenkampf ist nicht Bestandteil, sondern die Existenzberechtigung der Sozialdemokratie. Er ist die Antithese zur Umfragen- und Boulevardpolitik. Die derzeitige SPÖ ist so etwas wie der Klub des toten Klassenkampfs. Man reagiert zwar auf Stimmungsänderungen in der Bevölkerung und implementiert dementsprechend die Verteilungsgerechtigkeit in die tagesaktuelle Agenda, doch niemand käme in der Parteispitze heute auf die „kühne“ Idee, offen für eine weltanschauliche Alternative zum marktliberalen Mainstream zu kämpfen. Wenn sich die sozialdemokratische Position vom Mainstream klar und glaubwürdig unterscheidet, braucht es keine Popuplisten als Alternativen. Unvorstellbar für das Parteiestablishment, wäre der demokratische Klassenkampf eine Politik, die die SPÖ zu ihrer gemäß Kreisky „natürlichen Größe“ verhelfen würde: Nämlich zu 42 Prozent.